Beitrag von Martina Luig, ehemalige Landesjugendpflegerin Rheinland-Pfalz

Aufsichtspflicht in der Kinder- und Jugendarbeit
Grundsätzlich sind alle Minderjährigen, ohne Rücksicht auf ihre körperliche, geistige und seelische Entwicklung, aufsichtsbedürftig. Die Aufsichtsbedürftigkeit Minderjähriger endet unabhängig von der individuellen Entwicklung mit Vollendung des 18. Lebensjahres. Der individuelle Reifegrad hat lediglich Einfluß auf Umfang und Maß der Aufsichtsführung. Volljährige können ebenfalls aufsichtsbedürftig sein, wenn ihr körperlicher oder geistiger Zustand eine Beaufsichtigung nach den jeweils konkreten Gegebenheiten erforderlich macht ("Aufsichtspflicht und Haftung in der Kinder- und Jugendarbeit", Udo Sahliger, Bundesjugendwerk der Arbeiterwohlfahrt, Votum Verlag 1992, Seite 52 ff).

Zu unterscheiden sind die gesetzliche Aufsichtspflicht kraft ausdrücklicher gesetzlicher Bestimmungen, wie insbesondere die der Eltern gemäß § 1631 BGB, und die Aufsichtspflicht durch vertragliche Übernahme. In der Kinder- und Jugendarbeit liegt prinzipiell eine vertragliche Übernahme der Beaufsichtigung von den Eltern vor (§ 832 (2) BGB). Ein solcher "Aufsichtsvertrag" kommt in der Regel formlos zustande, z.B. durch die Anmeldung zur Ferienfreizeit. Die Aufsicht muß nicht ausdrücklich vereinbart werden, sondern besteht auch dann, wenn sie zumindest stillschweigend übertragen wird, z.B. der Besuch der Gruppenstunde mit Wissen der Eltern. Die Aufsichtspflicht des Betreuers ist in diesem Fall auf den örtlichen und zeitlichen Rahmen der Gruppenstunde beschränkt (ebd., S. 53 ff).
Dabei besteht in der Regel keine vertragliche Beziehung direkt zwischen Eltern und Betreuer, sondern zwischen Eltern und dem Träger des Angebotes. Für eine Haftung aus § 832 (2) BGB "Haftung des Aufsichtspflichtigen" ist dies jedoch unerheblich; eine Übertragungskette über den Träger an den Betreuer ist ausreichend.

Erleidet der Aufsichtsbedürftige aufgrund einer mangelhaft ausgeübten Aufsichtspflicht einen Schaden (Eigenschaden), so kann er bezogen auf das Zweierverhältnis Kind- Betreuer nach § 823 BGB einen Schadensersatzanspruch geltend machen.

Bei der rechtlichen Prüfung der Pflicht zur tatsächlichen Aufsichtsführung (Art und Umfang) werden im Einzelfall folgende Umstände berücksichtigt:

  • Alter und persönliche Verhältnisse (z.B. Behinderung) der Aufsichtsbedürftigen
  • Größe der Gruppe
  • örtliche Verhältnisse
  • Anzahl, Beherrschbarkeit und Einschätzbarkeit der vorhandenen Gefahrenquellen
  • Objektive Gefährlichkeit der Aktivität, z.B. Umgang mit Werkzeug, Schwimmbadbesuch
  • Anzahl der Mitbetreuer, aber nur wenn vorher eine Verteilung der Zuständigkeiten innerhalb des Teams vereinbart wurde

Der Bundesgerichtshof meint dazu:
„Das Maß der gebotenen Aufsicht bestimmt sich nach Alter, Eigenart und Charakter des Kindes sowie danach, was Jugendleitern in der jeweiligen Situation zugemutet werden kann. Entscheidend ist, was ein verständiger Jugendleiter nach vernünftigen Anforderungen unternehmen muß, um zu verhindern, daß das Kind selbst zu Schaden kommt oder Dritte schädigt.“ (BGH in NJW 1984, S. 2574)

Daraus läßt sich schließen, dass im Allgemeinen das persönliche Maß der Aufsichtspflicht

  • mit steigendem Alter der Jugendlichen, schon unter dem Aspekt des § 828 BGB (Mitverantwortung) ständig abnimmt
  • mit zunehmender Gefährlichkeit der Aktivität ständig zunimmt (z.B. Baden im See)
  • bei umfangreichen Hinweisen und Warnungen schon im Vorfeld abnimmt
  • bei ungünstigen persönlichen Umständen des Aufsichtsbedürftigen zunimmt
  • bei mehreren Mitbetreuern (und Aufgabenverteilung) abnimmt
  • bei zunehmender Größe der Gruppe ständig zunimmt.
    ("Aufsichtspflicht", Stefan Obermeier, Seminarskript 1999, Seiten 26-28, siehe auch unter www.aufsichtspflicht.de)

Diese allgemeinen Hinweise gelten grundsätzlich für Angebote der Kinder- und Jugendarbeit, also auch für Einrichtungen der offenen Jugendarbeit.

Die verschiedenen Organisationsformen offener Jugendarbeit müssen im Hinblick auf ihre Trägerschaft, die räumlichen Gegebenheiten, die Altersstruktur der Besucher, die Art der Betreuung etc., jeweils für sich betrachtet und bewertet werden.